[Aimee]

Aimee schafft es gerade noch ihr Kommen zu bestätigen, dann hat Melas schon wieder aufgelegt.
Eine Weile kreisen ihre Gedanken um Melas und leise Besorgnis regt sich in ihr, was wird Melas als Gegenleistung verlangen und, fast noch wichtiger, was wird er herausfinden können?
Aimee gibt sich einen Ruck. Sei einfach wachsam, wenn du dich mit ihm triffst, lass dich nicht von deiner Gier nach Informationen allzusehr verleiten.

Sie seufzt, dann sucht sie noch eine Weile nach den Schlagwort Djinni bis ihr einfällt, dass sie morgen für Ricky arbeiten wird und ruft Maria an. Sie bittet sie, ihre Schicht morgen zu übernehmen, "ich erzähle dir ein andermal, warum, versprochen."

Dann streckt sie sich, sucht ihre Sportsachen und überlegt, ob sie sich in einem Fitnesstudio anmelden soll - sie überkommt plötzlich die Sehnsucht nach dem Geruch von Parfum auf noch nassen Körpern - entschließt sich dann aber doch joggen zu gehen. Sie sucht ihren Ipod, verschließt ihre Tür sorgfältig und beginnt ihre übliche Runde.

[Makkharezz]

Zweimal hält Aimee an und schaltet die Musik aus, weil sie glaubt, ein Geräusch gehört zu haben, oder ein Rascheln, aber in der Nähe niemanden sehen konnte. Beide Male versucht sie, ihre eigene Atmung zu beruhigen und sich vom eigenen Herzschlag nicht ablenken zu lassen, als sie angestrengt lauscht und ganz genau die Umgebung beobachtet. Beide Male kommt sie zu dem Schluss, dass keine Gefahr droht. Trotzdem bleibt ein Gefühl der Unsicherheit zurück - wie so oft.

Vielleicht ist es deshalb, dass Aimee an diesem Abend ihre Runde ausdehnt und immer weiter läuft, bevor sie schließlich nach fast zwei Stunden genug hat. Sie merkt aber, dass es ihr gut getan hat, so dass sie nach einer ausgiebigen Dusche ins Bett fällt und sofort einschläft.

* * * * *

Die Bibliothek ist lange nicht so riesig wie die New Yorker Public Library, die Aimee während des Studiums einmal besucht hat, erzeugt aber eine ähnliche Atmosphäre durch die hohe Decke, die altmodisch anmutende Einrichtung aus rötlichbraunem Holz und messingverzierten Leselampen auf kleinen Tischen. Insbesondere natürlich durch die schiere Anzahl von Büchern, in Regalen, die bis zur Decke hoch reichen. Die meisten dieser Bücher sehen sehr alt aus, viele mit Einbänden aus Leder und verschnörkelter goldener Schrift auf dem Buchrücken.

Das Licht ist gedämpft, und es ist still, sehr still. Aimee glaubt schon, ganz allein in dem Gebäude zu sein, da hört sie ein Rascheln: Jemand hat eine Seite umgeblättert. Als Aimee den Gang ein paar Meter weitergeht, öffnet sich der Blick auf den Lesebereich, in dem ein halbes Dutzend Tische stehen. Nur einer davon ist besetzt. Ein magerer Changeling mit blauer Haut und spitzen Ohren hat eine Handvoll Bücher vor sich auf dem Tisch liegen und liest in einem davon. Neben dem Tisch ist ein metallener Ring in den Boden eingelassen, allerdings nicht aus Eisen, sondern aus Bronze. Von dort führt eine dicke Kette aus demselben Material zum Fußgelenk des Lesers.

Noch hat er Aimee nicht bemerkt.

[Aimee]

Aimee betrachtet kurz die Titel auf den Buchrücken in dem Regal neben ihr, dann geht sie langsam zu dem Changeling hinüber und sieht ihm über die Schulter um zu sehen, was er liest.

[Makkharezz]

Das Regal, neben dem Aimee steht, ist mit „Volkskunde“ überschrieben. Sie überfliegt ein paar Titel unter anderem „Damballah, Vater der Loa“ und „Mythologie der mesoamerikanischen Hochkulturen“.

Als Aimee sich dem Leser nähert, sieht sie, dass er ein halbes Dutzend Bücher auf seinem Tisch liegen hat. Eins ist aufgeschlagen, es sieht schon sehr alt aus und ist handgeschrieben. Wovon es handelt, kann sie nicht erkennen, denn es ist in arabischer Schrift geschrieben.

Plötzlich fährt der Changeling zusammen, als er bemerkt, dass er nicht allein ist. „Was willst du?“ herrscht er Aimee an. „Könnt ihr mich nicht wenigstens hier in Frieden lassen?“

[Aimee]

Aimee bleibt stehen und hebt abwehrend die Hände. "Ich will doch gar nicht stören. Aber wir suchen das gleiche Wissen. Wer hat dich hier angekettet?"

[Makkharezz]

Misstrauisch kneift der Gefangene die Augen zusammen. „Ach ja? Wer sagt mir denn, dass du nicht einer von ihnen bist? Vielleicht haben sie dich geschickt, um dir mein Vertrauen zu erschleichen und mich auszuhorchen.“ Dann werden seine Züge plötzlich weicher, und mit einer kindlich anmutenden Neugier fragt er: „Wonach suchst du denn?“ Und dann ein fast komischer Ausdruck der Überraschung: „Und wonach suche ich? Was für ein herrlicher Zufall, wenn wir wirklich nach derselben Sache forschen.“

Während Aimee noch versucht, das seltsame Verhalten einzuordnen, fällt ihr Blick noch einmal auf die Bücher auf dem Tisch und bemerkt etwas, das ihr erst jetzt auffällt: Eines davon, das im Stapel zuunterst liegt, hat einen besonderen Buchrücken: Ein violettes Schlangenmuster, ähnlich dem ihres mysteriösen Buchs.

[Aimee]

Automatisch streckt sie die Hand aus und fragt den Blauen, ohne ihm in die Augen zu sehen: "Ist dies Buch dort deines? Forschst du nach der Gabelung, an der wir uns entscheiden können, zu welchem Volk wir gehören wollen?"

[Makkharezz]

Blitzschnell zieht er das Buch zu sich heran und presst es an seinen Körper, ohne sich darum zu kümmern, dass die anderen Bücher dabei vom Tisch purzeln. Es scheint sich aber um einen Reflex gehandelt zu haben, denn schon löst der Verlorene seine Finger die sich um das Buch gekrampft haben, legt es behutsam vor sich auf den Tisch und streicht mit einer Hand über den Einband.

„Gott hat uns allen die Wahl gelassen, was wir sein wollen, und wie wir leben wollen. Daran glaube ich, und das werde ich mir nicht nehmen lassen!“ Aus voller Überzeugung spricht er diese Worte, aber schnell verwandelt sich seine Entschlossenheit in Resignation. Mit weinerlicher Stimme sagt er: „Es ist mein Buch, aber es ist verloren gegangen, und mit ihm alle meine Erinnerungen. Nichts ist mir mehr geblieben, und dass, nachdem ich so viele Jahre meines Lebens daran gearbeitet habe.“

Seine Hände ballen sich zu Fäusten, sein Gesicht wird zu einer wutverzerrten Fratze, und er springt von seinem Stuhl auf. Er stößt eine Flut von arabischen Worten hervor, eine ganze Minute lang, ohne Punkt und Komma, und dabei hüpft er aufgeregt herum, soweit es die Kette an seinem Fuß zulässt.

Schließlich ist seine Wut verraucht, und er sinkt kraftlos wieder auf seinen Stuhl zurück. Als er den Blick hebt, hat er Tränen in den Augen. Noch immer scheint er sich nicht schlüssig zu sein, ob er Aimee vertrauen soll, aber voller Hoffnung fragt er: „Du weißt davon? Wie kommt das?“

[Aimee]

Aimee wirft einen genauen Blick auf das Buch um zu prüfen, ob es sich tatsächlich um dasselbe Exemplar wie in ihrem Besitz handelt, dann wartet sie bis der Blaue sich beruhigt hat, setzt ein beruhigendes Lächeln auf und fragt ihn: "Und wenn ich dir jetzt sage, dass ich es gesehen habe und dass es intakt ist?"

Dann, in einem wesentlich festeren, fast befehlenden Tonfall: "Aber du musst mir nur sagen, wo du hier bist und wer dich hier festhält."

[Makkharezz]

Der Einband des Buches sieht tatsächlich genauso aus wie bei dem, das Aimee besitzt, und auch das Format stimmt. Nur sind bei diesem die Seiten eben leer.

„Na, was meinst du denn, wo ich bin? In meinem Traum, das siehst du doch!“

Er brabbelt leise ein paar Sätze auf arabisch, dann macht er einen Satz nach vorn, bis er dicht vor Aimee steht. Heiser flüstert er: „Die Loyalisten haben mich geschnappt und mir mein Buch weggenommen.“ Noch leiser wird seine Stimme, bis Aimee sie gerade noch verstehen kann. „Weißt du, wo es ist? Hast du es wirklich gesehen?“

Plötzlich greift er Aimees Arm und krallt seine Finger in den Stoff ihrer Jacke. „Oder bist du doch einer von denen, hm?“ So erzürnt funkelt der Blaue sie nun an, dass er trotz seiner wenig imposanten Gestalt bedrohlich wirkt.

[Über Loyalisten hat Aimee schon Gerüchte gehört. Es soll sich dabei um Changelings handeln, die insgeheim mit den Wahren Feen gemeinsame Sache machen und sich in die Gemeinschaft der Verlorenen einschleichen, um sie auszuspionieren.]

[Aimee]

Wut kocht plötzlich in Aimee hoch und sie packt seine Hand und reisst sie von ihrer Jacke herunter. "Für was hälst du mich, eine Verräterin?" zischt sie ihn an.
Dann atmet sie tief ein, versucht sich zu beruhigen, beugt sich vor und raunt dem Changeling beschwörend ins Ohr: "Du musst mir sagen, wo diese Bibliothek steht - und welches Jahr wir hier haben. Nur so kann ich dich finden!"

[Makkharezz]

Der Changeling blinzelt verwirrt. „Ja, weißt du das denn nicht…?“ Eine Mischung aus Staunen und Mitleid liegt in seinem Blick. Ganz vorsichtig, als wenn er Aimee vor der Antwort beschützen will, antwortet er: „Wir haben 1999.“ Aufmerksam schaut er, wie Aimee darauf reagiert.

Doch schon im nächsten Moment scheint er seine Sorge zu vergessen. Mit einem seligen Lächeln streicht er über die Bücher, die noch auf dem Tisch liegen, tippt an die altmodische Lampe und danach auf die verschnörkelte Rückenlehne des Stuhls. „Das ist die Bibliothek der SDSU*. Hier bin ich immer am liebsten gewesen, bei all den Büchern. Deshalb komme ich in meinen Träumen so oft hierher.“

Mit einem kleinen Hüpfer setzt der Changeling sich auf den Tisch und baumelt mit den Beinen, wodurch die Kette leise rasselt. Ihn scheint das nicht zu stören, er konzentriert sich nun intensiv auf Aimee. „Aber du hast mir immer noch nicht erzählt, was du in meinem Traum zu suchen hast.“ Forsch reckt er das Kinn vor. „Wer bist du überhaupt?“


* San Diego State University

[Aimee]

"Aimee. Und wie heisst du?" Sie räuspert sich, irgendwie hat ein Kloß sich in ihren Hals verirrt. "Du bist übrigens in meinem Traum. Und du sagst, du kannst deine eigenen Träume lenken? Aber hast nicht mich hierher geholt? Und warum kannst du jetzt nicht mehr hierher kommen?"

[Makkharezz]

„Al-Ghazali. Und dies ist mein Traum, nicht deiner, sonst wären wir doch nicht hier in der Bibliothek.“ Plötzlich ruckt sein Kopf zur Seite, und danach wirkt sein Kinn ein wenig kantiger, seine Nase etwas kleiner als vorher. „Besonders helle ist sie aber nicht, ich frag mich, wie sie uns gefunden hat.“ bemerkt er, und Aimee fährt zusammen, weil seine Stimme plötzlich so hart und fremd klingt, dass sie für eine Sekunde geglaubt hat, es sei noch eine dritte Person anwesend.

Offenbar muss Al-Ghazali zunächst über seine eigene Feststellung nachdenken, denn er runzelt angestrengt die Stirn. Dann leuchten seine Augen auf, und nun scheint er wieder er selbst zu sein. „Sie hat von dem Buch gesprochen. Das muss es sein!“ Erst jetzt schaut er wieder Aimee an, hält ihr das Buch unter die Nase und redet nun langsam und deutlich, als wollte er einer Ausländerin etwas begreiflich machen. „Hast du dieses Buch gesehen? In der echten Welt, meine ich. Hast du es angefasst? Denk nach, es ist sehr wichtig!“

[Aimee]

Aimee stolpert einen Schritt rückwärts und kneift die Augen zu Schlitzen zusammen, sie zischt den Bläuling an: "Dann behalte deinen Traum, dein Buch und deine Erinnerung. Ich habe gesehen, mehr nicht. Und ich weiss nicht, wieso du mich hierher geholt hast!"
Schnell, ehe er den Bluff vielleicht bemerkt, wendet sie sich um und eilt den Gang zurück, als sie an das Ende des Regals kommt dreht sie sich noch einmal halb um und wirft einen raschen Blick zurück. Dann merkt sie sich die Regalreihe und eilt dem Ausgang entgegen.