Skeyfare

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Autor Thema: Melville - Erinnerungen  (Gelesen 4567 mal)

Offline Makkharezz

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Melville - Erinnerungen
« am: 11. April 2016, 16:11:50 »
Euth, am 07. Juli 1530

Durchgeschwitzt und abgekämpft betritt Melville sein Zimmer, legt seine Axt auf den Tisch und macht sich frisch. Es hat gut getan, sich in der Kampfschule mit Sarana und Kither auszutoben und sich zwei Stunden lang nur auf das Training zu konzentrieren. Aber nun holt ihn sein schlechtes Gewissen ein. Morgen soll der neue Verwalter anfangen und ihm hundert Kleinigkeiten abnehmen. Vor allem soll er sich um die Ländereien kümmern, die zeitraubenden Gespräche mit den Pächtern, die ständig über bessere Konditionen verhandeln oder über die schlechte Ernte lamentieren wollen.

Dafür muss Melville aber zumindest ein bisschen Ordnung in die Papiere bringen, die sich auf dem Schreibtisch seines Vaters stapeln. Nein, verbessert er sich in Gedanken, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln. Fast wünscht er sich, er würde zu seinem Meister zitiert, um einen Auftrag entgegenzunehmen, aber es nutzt nichts. Auch wenn er sich lieber einer Horde Dämonen stellen würde als sich mit Abrechnungen, Steuern und Bestellungen herumzuschlagen; es ist seine Pflicht und muss getan werden.

Er zieht die Augenbrauen hoch, als er seine Schwester Ophelia im Arbeitszimmer findet. Die Kinder haben in diesem Raum nichts zu suchen, und der Sessel, in dem es sich mit angezogenen Knien gemütlich gemacht hat, war der Lieblingsplatz seines Vaters. Niemand außer ihm hat dort gesessen.

Ärger steigt in ihm auf, dass sie einfach so in das Sanctum ihres Vaters eindringt, und scharfe Worte liegen ihm auf der Zunge, doch Ophelia scheint mit ihren Gedanken ganz weit weg zu sein, und er bringt es nicht übers Herz, sie zu tadeln. Als er sich an den Schreibtisch setzt, schreckt sie auf. Plötzlich wird es ihm klar: es ist kein mangelnder Respekt, den seine Schwester zeigt. Sie ist hier, weil an diesem Ort der Geist ihres verstorbenen Vaters spürbar ist. Fast kann Melville die Hand Eliezères auf seiner Schulter fühlen, und er muss schlucken.

„Papierkram?“ fragt Ophelia und lächelt ihren großen Bruder mitfühlend an.

Er nickt und zieht halbherzig ein paar der Papiere zu sich heran. Er wirft einen Blick auf die Rechnung, die obenauf liegt, dann schaut er wieder auf. „Kommt Dame Gerola nachher noch?“ fragt er und redet sich ein, dass er das Gespräch nicht beginnt, um die Arbeit aufzuschieben. Schließlich hat er nun die Verantwortung für seine Familie, dazu gehört es auch, sich über die Ausbildung seiner Geschwister zu informieren.

„Es sei denn, ihr Pferd wird durch ihre Wolke aus Parfüm ohnmächtig, und sie bricht sich beim Sturz ein Bein.“ Ihr Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran, was Ophelia vom Eintreten dieses Ereignisses halten würde. „Warum muss ich diesen ganzen Kram überhaupt lernen? Ich glaub nicht, dass es schon mal einen diplomatischen Zwischenfall gegeben hat, nur weil jemand aus Versehen den Fisch mit der Dessertgabel gegessen hat.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, murmelt Melville und verkneift sich ein Grinsen. Er hat es damals auch gehasst, in Etikette unterrichtet zu werden, und anders als ihre große Schwester Sophie hat Ophelia wenig Interesse, an gesellschaftlichen Anlässen teilzunehmen und sich in hübschen Kleidern zu präsentieren. Zwar hat sie eine gute Menschenkenntnis und ist auch nicht schüchtern, aber sie hat wenig für großes Trara übrig und hält sich bei Festen lieber im Hintergrund.

Er macht sich wenig Sorgen, dass aus ihr etwas werden wird, denn sie hat einen wachen Geist, steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden und geht Probleme pragmatisch an. Wahrscheinlich könnte sie sich sogar besser in die geschäftlichen Angelegenheiten der Familie einarbeiten als er. Und dennoch, Etikette gehört in ihrer Familie zum Handwerkszeug. Philomena de Bonacieux hat großen Wert darauf gelegt, ihren Kinder schon von früh an beizubringen, sich in der Euther Gesellschaft angemessen verhalten.

„Wenn du Glück hast, setzt Dame Gerola sich bald zur Ruhe. Sie hat neulich erwähnt, dass sie schon nach einer Nachfolge Ausschau hält.“

„Dank sei dir, Cuxvana, du hast meine Gebete erhört.“ deklamiert Ophelia mit einer dramatischen Geste.

Melville muss schmunzeln, aber es hilft nichts, als Familienoberhaupt muss er der Spielverderber sein. „Trotzdem musst du zum Unterricht, ich fürchte, daran führt kein Weg vorbei. Wir alle müssen unsere Pflicht tun, das weißt du ganz genau.“

„Du klingst schon wie Papa!“ beschwert sie sich, und einen Moment herrscht Stille, als beiden bewusst wird, wie sehr diese unbedachte Bemerkung das Thema berührt, mit dem sie beide sich in diesem Moment nicht auseinandersetzten wollen. Melville atmet tief durch, dann schaut er seiner kleinen Schwester fest in die Augen, die einen Schmollmund zieht und ihn trotzig anschaut.

Schließlich gibt Ophelia auf und erhebt sich mit einem genervten Schnaufen. „Na gut, dir zuliebe. Aber nur, wenn du dich auch um deinen Kram kümmerst. Nicht, dass du alles herunterwirtschaftest und wir irgendwann auf der Straße leben müssen.“

„Jaja“, brummt Melville missmutig. Es ist ihm unheimlich, wie treffend sie seine eigenen Ängste beschreibt.

Nachdem die Tür sich hinter Ophelia geschlossen hat, beginnt er, die Papiere zu sortieren und Häufchen mit wichtigen oder besonders eiligen Angelegenheiten zu bilden. Nachdem er ein wenig Ordnung in das Chaos gebracht hat, ist er schon ganz zufrieden mit sich und schiebt den Stapel mit den weniger dringenden Papieren an den Rand. Dabei fällt sein Blick auf eine Schramme in der Tischplatte. Er fährt mit dem Finger über die Linie, und die Erinnerung, wie die Schmarre entstanden ist, trifft ihn wie ein Schlag in die Magengrube.

Vor seinem geistgien Auge sieht er sich selbst, im Alter von sechzehn Jahren. Dem jungen Melville steht Wut ins Gesicht geschrieben, und die Selbstgerechtigkeit eines Jugendlichen, der glaubt, alles besser zu wissen. Schwungvoll zieht er die Axt aus ihrer Scheide, das Familienerbstück, das sein Vater ihm erst wenige Monate vorher anvertraut hat und knallt es auf den Schreibtisch.

Es war in der Zeit, in der er bereits Mitglied im Orden war, das aber geheim halten musste und aller Welt vorgaukelte, dass er sich als Mietschwert verdingte. Sein Vater hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie enttäuscht er von Melville gewesen ist. Durch die Zurückweisung der Axt hatte Melville ihn mehr oder minder gezwungen, seinem Sohn die Axt ein zweites Mal zu übergeben und ihm damit zu zeigen, dass er seine Entscheidung akzeptierte.

Melville muss über sich selbst den Kopf schütteln. Was für ein Dickkopf er doch gewesen ist! Ständig war er mit seinem Vater aneinandergeraten. Ein Wunder, dass Eliezère nie die Beherrschung verlor, so wie sein Sohn ihn manchmal provoziert hatte.

Immer noch klebt Melvilles Blick auf der Schramme, doch das Bild verschwimmt, als ihm Tränen in die Augen treten. Er stemmt sich mit aller Kraft gegen die Trauer die in ihm aufsteigt, versucht sich einzureden, dass er stark bleiben muss, aber er erstickt fast daran. Schließlich entfährt ihm ein jämmerliches Winseln, und die Gefühle, die er seit zwei Wochen unterdrückt hat, überrollen ihn wie eine Sturmflut. Wut auf Justarius, und auf Amabea für Eliezères viel zu frühen Tod. Angst, sein Leben ohne die Führung und den Rückhalt seines Vaters meistern zu müssen. Vor allem aber ein tiefer Schmerz, der bis in seine Seele reicht.

Verzweifelt schlingt er die Hände um seinen Kopf, wie um sich von der Welt abzuschirmen, während heiße Tränen über sein Gesicht laufen und die Schluchzer seinen ganzen Körper durchschütteln.
« Letzte Änderung: 12. April 2016, 16:10:05 von Makkharezz »
We stopped looking for monsters under our bed when we realized that they were inside us.