Als Aimee das Buch aufschlägt, fällt ihr Blick noch einmal auf das Gedicht auf der ersten Seite. Doch dieses Mal ist sie darauf vorbereitet, und ihre Gedanken schweifen nicht in die Vergangenheit ab. Schon deshalb nicht, weil sie viel zu neugierig ist, was für einen Fund sie in den Händen hält.
Ein flüchtiges Durchblättern zeigt ihr, dass nicht nur das Gedicht mit der Hand geschrieben wurde. Es handelt sich nicht um ein gedrucktes Buch, sondern eher ein Notizbuch, dessen Seiten mit Tinte oder Kugelschreiber ausgefüllt wurden. Einige Einträge sind sehr sorgfältig vorgenommen, worden, andere wirken hastig hingekritzelt. Sie erkennt verschiedene Handschriften, und ihr Blick fängt sogar einen Eintrag ein, der in fremden Schriftzeichen verfasst ist, die vielleicht arabisch sein könnten. Auch ein paar Zeichnungen sind zu erkennen, die auf den ersten Blick nach Schaubildern wie in wissenschaftlichen Fachbüchern aussehen.
Aimee schlägt wieder die erste Seite auf, blättert einmal um und beginnt zu lesen:
Wer bin ich? Was bin ich? Jeder, der durch die Hecke gekommen ist, hat sich diese Fragen schon gestellt, und Meinungen dazu gibt es fast mehr als Verlorene. Ein Mensch, dessen Verwandlung in eine Fee unterbrochen wurde, und der nun auf halber Strecke zurückgeblieben ist, unvollkommen, keiner der beiden Welten zugehörig? Ein Verdammter, dessen Seele bei seiner verzweifelten Flucht durch die Dornen zerfetzt wurde, so dass ihm nun jede Hoffnung auf Erlösung genommen ist?
Mir selbst ist eine andere Frage wichtiger. Können wir nicht selbst entscheiden, was wir sein wollen? Sollten wir nicht an einer Gabelung stehen, mit der Möglichkeit, wieder zu unserem früheren Ich zu werden und in unser vertrautes Leben zurückzukehren oder aber das neue zu führen, das wir uns hinterher aufgebaut haben, mit all seinen Risiken und Chancen?
Ich bin selbst nicht sicher, wie ich mich entscheiden würde. Aber ich bin sicher, Gott hat uns einen freien Willen gegeben, damit wir eine solche Wahl treffen können. Nur den Weg zur Verwirklichung der einen Möglichkeit haben wir noch nicht gefunden. Oder kannten wir ihn und haben ihn nur wieder vergessen? War es vielleicht die Furcht davor, wieder ein ganz normaler Mensch zu sein, ohne den Schmerz und die Verwirrung, aber auch ohne die Schönheit und den Zauber des Feendaseins?
Ich will mich damit nicht zufrieden geben. Ich will eine Wahl haben, und dafür widme ich von nun an meine ganze Kraft, zu dieser Weggabelung vorzustoßen.
ﻰﻊككﻰﭨݓشݭﻖ ﻰﭨ ݓ ككﻰﭨݓﻐﻴﻷﻭﻫﺏﺞﺰﺧ ﻊ ككﻰﭨݓشݭﻖ ﻰﭨݓ ككﻰﭨݓ
Al-Ghazali, März 1975
Ist es wirklich das, wonach es aussieht? Sucht der Autor tatsächlich nach einem Weg, einen Changeling wieder in einen normalen Menschen zurück zu verwandeln? Keiner der Verlorenen die Aimee bisher getroffen hat, glaubt an eine solche Möglichkeit.
Voller Ungeduld blättert Aimee durch das Buch, mit dem Ziel, hier und da eine Stelle zu lesen, um schnell herauszufinden, ob der Autor mit seiner Suche tatsächlich Erfolg hatte. Das gestaltet sich aber gar nicht so leicht. Statt zielstrebig und strukturiert vorzugehen, lesen sich manche Einträge wie philosophische Abhandlungen, die wenig konkreten Inhalt zu haben scheinen. Bei anderen verfolgt Al-Ghazali eine Frage, nur um drei Sätze weiter zu einem Randgedanken abzuschweifen und sich drei Seiten lang über diese Nebensächlichkeit auszulassen.
Viel seltsamer scheint ihr aber etwas anderes: Sie findet im Buch unterschiedliche Handschriften und Schreibstile. Manchmal scharfsinnig und knapp, dann wieder ausschweifend, oder auch regelrecht kindlich. Zuerst glaubt sie, dass verschiedene Personen an dem Buch geschrieben haben. Aber dann findet sie zum wiederholten Mal eine Stelle, an der sich mitten im Satz die Handschrift ändert, und offensichtlich mit demselben Füllfederhalter weitergeschrieben wird. Als sei das nicht genug, sind manche Passagen nicht in Englisch verfasst, nicht einmal in lateinischen Buchstaben, sondern in Schriftzeichen, die vielleicht arabisch sein könnten.
Auch die Zettel, die in dem Buch gelegen haben, schaut Aimee sich nun genauer an. Auf dem ersten findet sie wieder das Shakespeare-Gedicht, dieses Mal aber mit einigen Randbemerkungen. [s. Handout] . Der zweite Zettel zeigt etwas, das wie eine astronomische Himmelskarte aussieht, mitsamt Bezeichnungen für die Sternbilder, allerdings hat Aimee keinen dieser Namen je gehört. Dann gibt es noch ein drittes Blatt. Mit dem kann sie aber noch weniger anfangen. Die Schriftzeichen sind ihr gänzlich unbekannt, anders bei den mutmaßlich arabischen Buchstaben im Buch hat sie nicht einmal eine Ahnung, aus welcher Kultur diese Symbole stammen könnten.
Lange Zeit ist Aimee in die Aufzeichnungen versunken, liest über Magie und Rituale, die einen Changeling von seinem feenhaften Erbe befreien könnten, sie liest Vermutungen über die Macht der Wärter, über Fetches, über die Natur der Hecke und über die Seele der Verlorenen. Irgendwann merkt sie, dass sie einen ganz trockenen Mund hat und das Bein eingeschlafen ist, das sie auf den Sessel gezogen und angewinkelt hat. Kein Wunder, ein Blick auf die Wanduhr zeigt ihr, dass es bereits nach drei Uhr nachts ist.